2012-05-24


LJM: Können Sie anhand einiger Beispiele die Unterschiede in der Kindererziehung in Deutschland und China verdeutlichen?

Zhao: Grundsätzlich gibt es einen Unterschied in der Art des Respekts, den man Kindern entgegen bringt. Nehmen wir z.B. die Art, wie Kinder Erwachsene anreden. In China ist es sehr wichtig, wie Kinder Erwachsene in der Öffentlichkeit ansprechen. In Deutschland dagegen macht man es davon abhängig, wie alt das Kind ist und wozu es von seiner Entwicklung her betrachtet in der Lage ist.

Ein anderes Beispiel ist die Erwartung, ab welchem Alter die Kinder sauber sein müssen. In China wird erwartet, dass Kinder im Alter von ca. einem Jahr keine Windeln mehr brauchen, in Deutschland wird hingegen die physiologische Entwicklung berücksichtigt. Und dann auch der Umgang mit dem Tod und die Sexualerziehung. Das war damals auch alles völlig neu für mich, noch nie hatte ich von so etwas gehört. Außerdem gibt es auch viele Beispiele zum Umgang mit den Gefühlen der Kinder, insbesondere mit negativen Gefühlen wie z.B. Angst, Kummer, Eifersucht, Wut. Die Deutschen versuchen zuerst, das Kind zu beruhigen und suchen dann erst nach den Gründen für den Ausbruch dieser Gefühle.

Einmal habe ich ein Kind gesehen, das ständig mit den Augen zwinkerte und habe dann laut gefragt, was es damit auf sich habe. Die Mutter des Kindes gab mir zu verstehen, dass ich nicht vor dem Kind darüber reden solle. Später habe ich erfahren, dass das Kind nachts Angst hatte und das Zwinkern eine nervöse Reaktion war. Würde man in Anwesenheit des Kindes darüber reden, dann könnte das Kind annehmen, dass es etwas falsch gemacht hätte und könnte noch nervöser werden. Mir wurde in diesem Moment sofort klar, dass die Angewohnheit chinesischer Eltern, im Beisein ihrer Kinder alles auszudiskutieren, eine völlige Missachtung der Gefühle der Kinder ist.

Aus genau diesen Erfahrungen heraus hat sich mein Interesse für Kindererziehung entwickelt. Ich habe viele Bücher zu dem Thema gelesen und einige Kurse an der Universität belegt. Von besonderem Interesse war für mich, wie man durch von Kindern gemalten Bilder ihre seelischen Probleme erkennen kann.


Zhao: In den letzten vier, fünf Jahren hat sich die Erziehung in den chinesischen Familien sehr verändert. Dies ist zum Einen darauf zurückzuführen, dass es auf dem Büchermarkt inzwischen ein großes Angebot an Büchern über Kindererziehung im Ausland gibt und dass darüber hinaus auch noch eine sehr große Vielfalt an sonstigen pädagogischen Angeboten und Informationen besteht. Allerdings ist bis heute ein grundsätzliches Problem ungelöst: Chinesische Eltern erwarten immer noch unbewusst von ihren Kindern, dass diese sich wie kleine Erwachsene benehmen und sind nicht bereit, mittels Kommunikation und Austausch in die Welt der Kinder einzutauchen.

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