Erziehung Fron der frühen Jahre
Zweijährige lernen rechnen, Dreijährige schreiben. Chinesische Eltern trimmen ihre Kleinkinder auf Hochleistung
»Sitzt gut und gerade!«, ruft die junge Frau in rosa Uniform einer
Gruppe von fünf Zweijährigen und ihren Müttern zu. »Wu Yu Ying möchte
ich bitten: Wenn wir die Zahl Zwanzig und die Zahl Drei aus unseren
Kärtchen aufnehmen, an welcher Stelle werden wir sie bei den
Perlenschnüren ablegen?« Wu Yu tut, was sie tun soll, und zählt die
Perlen ab. »Bravo, spendet Beifall für Wu Yu Ying!«, ruft die
Erzieherin. Vier Zweijährige und fünf Mütter klatschen, und gleich
werden alle Wu Yu Yings Namen an der Ehrentafel lesen.
In dem Privatkurs für Kleinkinder und ihre Mütter in Peking lösen
Zweijährige anspruchsvolle mathematische Zuordnungsprobleme im
Minutentakt. Dreijährige rechnen bis in die Zehner- und Hunderterreihen,
sie widmen sich diffizilen feinmotorischen Aufgaben mit Essstäbchen und
an Knopflöchern, sie lesen erste Schriftzeichen, rufen im Chor
englische Slogans. Sie üben unbedingte Konzentration auf gestellte
Aufgaben und zügiges Arbeiten.
Dass aufmerksame Blicke der Erwachsenen auf ihnen ruhen, bringt
die Kinder nicht aus dem Takt, sie bleiben bei der Sache und scheinen
die Aufgaben nicht als Zumutung zu empfinden. Kein Lernen ohne
Wettbewerb, scheint eine wichtige Regel zu lauten. Am Ende der
Förderstunde krabbeln die Einjährigen um die Wette. Begeisterung unter
den Erwachsenen. Tempo, Tempo! Wenn allerdings ein Krabbelkind vor dem
Ziel ausschert, schämt sich nicht nur seine Mutter, sondern, so scheint
es, auch das Kind.
Bildung für mehr als ein Kind würde die meisten Familien überfordern
Hundertdreißig Millionen Vorschulkinder leben heute in China,
kostbare Einzelkinder, auf die sich die gespannte Aufmerksamkeit ihrer
Familie richtet. Kostspielige Kinder, in deren Bildung investiert wird,
was immer die Erwachsenen sich leisten können: Geld für Kindergärten und
für Förderkurse in frühem Alter, Mutterzeit, Großelternzeit. Wie können
wir unser Kind optimieren, das kleine Kraftzentrum ganz nach vorn
bringen?
In der familiären Erwartung von künftigem Aufstieg und Wohlstand in
einer Gesellschaft, die neuerdings auf Wissen und Bildung setzt wie
keine andere, kann die energische Pädagogik offenbar nicht früh genug
ansetzen. Von Jahr zu Jahr werden höhere Anforderungen zur Norm – auch
an die Eltern. Bestimmte Leistungen fürs Kind nicht zu erbringen, das
wird in China bald mit Vernachlässigung gleichzusetzen sein. Auch
deshalb ist die Ein-Kind-Politik in den Städten akzeptiert: Für mehrere
Kinder würden die Ressourcen der meisten Familien kaum reichen.
Kindheiten in den neuen chinesischen Mittelschichten sind bis in den
letzten Winkel ausgestaltet, optimiert mit immer neuen
Bildungsprogrammen. Chinesische Pädagogen sehen sich in aller Welt um.
Ob Hochbegabungstraining oder Montessori-Pädagogik, Ideen aus Singapur
oder aus den USA, alles wird eingespeist. Das Ergebnis: Leistungskurse
schon für Ein- und Zweijährige, mit rigorosem kognitivem
Funktionstraining
Privatkurse wie jener in Peking verbreiten sich in ganz China, auch
in kleineren Städten. Nur wenige Eltern können es sich leisten, mehrere
solcher Kurse in der Woche zu belegen. Aber die sollen ja auch Anleitung
für zu Hause sein. Die Erwachsenen nehmen die Hausaufgaben ernst. Und
im Zweifel bieten die Eltern-Kind-Programme im Fernsehen Hilfe an, die
Chatrooms im Internet und viele neue Elternzeitschriften mit hohen
Auflagen.
Auch die chinesischen Kindergärten expandieren. Noch besucht in China
erst jedes dritte Vorschulkind einen Kindergarten, aber in den
Großstädten schon jedes zweite. In Peking werden Kindergärten in drei
Qualitätsstufen eingeteilt. Nur ein Drittel von ihnen sind heute noch
Internatskindergärten, wie der von Mao Tse-tung gegründete Kindergarten
»Das Goldene Pferd«. Ein wenig Freiheit hat hier Einzug gehalten: Die
sechshundert Kinder tragen inzwischen unterschiedliche Frisuren statt,
wie zu Maos Zeiten, einen Einheitshaarschnitt. Aber nach wie vor gibt es
in den Schlafsälen keinen persönlichen Gegenstand, kein Foto, kein
Kuscheltier.
So lernt ein Kind früh, disponibel zu werden, einsatzbereit, nicht an
persönliche Orte gebunden. Und nach wie vor wird in den
Wochenkindergärten viel geschlafen, zwölf Stunden nachts, zwei am Tag.
Diese erzwungene Ruhigstellung – so müde ist kein Kind – gehört heute zu
den unangenehmen Erinnerungen vieler Erwachsener an ihre
Kindergartenzeit. In den meisten Kindergärten der Qualitätsstufe eins
sitzen die Kinder tagsüber viel an Tischen vor didaktischem Material aus
Plastik. Auf die Frage nach seinem Kindergartenbesuch entfährt dem
Dolmetscher, auch er habe drei Jahre im Kindergarten »gesessen«. Eine
Mutter bekennt fast trotzig, ihren Sohn sonntags im Park nur laufen und
klettern zu lassen, denn das wie viele andere schon deutlich
übergewichtige Kind habe »während der Woche so wenig Bewegung«.
In Imagefilmen werben Kindergärten um neue Eltern. Vor stattlichen
Gebäuden präsentieren die Leiterinnen das Konzept ihrer Einrichtung.
Während der Kulturrevolution sollte man im Kindergarten lernen, »wir«
statt »ich« zu sagen. Heute sprechen die Leiterinnen von
Selbstständigkeit, Sozialverhalten, Förderung individueller Begabungen.
Mit diesen pädagogischen Begriffen knüpft man an die Anfänge der
chinesischen Elementarpädagogik im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts
an, als Vertreter Chinas in die USA reisten, vor allem an die Columbia
University, zu dem Pädagogen und Psychologen John Dewey.
Das Vokabular der chinesischen Pädagogik ist heute modern und
universell, doch im Widerspruch zur vorgeblichen Individualisierung
steht ein geradezu totalitärer Fröhlichkeitszwang. Kinder erscheinen in
allen Broschüren oder Veröffentlichungen nie nachdenklich oder ernst,
man blickt ausnahmslos in lachende Kindergesichter, als sei ein
glückliches Kind grundsätzlich ein lachendes Kind. Neuerdings soll, im
Gegensatz zur traditionell strengen chinesischen Pädagogik, viel gelobt
werden. Die Kinder umarmen morgens beim Appell der Reihe nach die
Erzieherin.
Außerhalb dieser künstlichen pädagogischen Welten gibt es weiterhin
die traditionellen Umwelten für Kinder, zwischen Alt und Jung, zwischen
Werkstätten und Tieren. Da könnten die Kinder beobachten, mit welcher
Materialkenntnis und welchem virtuosen Raumbewusstsein jemand eine ganze
Couchgarnitur aufs Fahrrad lädt und um die Ecke transportiert. Aber
solch informelles Lernen genießt unter den chinesischen Pädagogen kein
Ansehen. Auf einem Kongress in Peking für dreihundert
Kindergartenleiterinnen löste die Einspielung von Filmszenen aus
deutschen Waldkindergärten Befremden aus. Einem einzelnen Kind
zuschauen, wie es vor einer Pfütze hockt und einen Molch beobachtet? Das
erinnert viele Erwachsene doch zu sehr an Kälte, Schmutz und harte
Arbeit auf dem Feld. Angeleitetes Arbeiten an didaktischem Material in
Primärfarben erscheint stattdessen in China als Befreiung von Körper und
Geist, als pädagogische Professionalität.
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Aber auch in China regt sich Kritik an der Beschleunigungspädagogik
und den sterilen Kinderwelten. »Wir müssen mit den Kindern in China eine
Kultur des Fragens entwickeln, anstatt die Kinder ständig nur
abzufragen«, sagt der Präsident der chinesischen Erfinder-Akademie,
Zhiang Kai Xun. »Kinder, die von früh an das Antwortverhalten der
Prüfungen lernen, mögen später vielleicht passable Akademiker werden,
aber sie werden niemals Forscher und Erfinder.« Zhiang Kai Xun ist bei
den Pädagogen und Eltern beliebt, auf Tagungen übt er mit ihnen die
Kunst des Fragens.
Die Fähigkeiten kleiner Kinder wurden in Deutschland unterschätzt
Kann man von China lernen? Man hat sich in Deutschland damit
eingerichtet, sich pädagogisch ausschließlich für die Länder zu
interessieren, die uns etwas voraushaben, seien es die skandinavischen
Staaten oder die Early Excellence Centers in England. In der
chinesischen Frühpädagogik wird für unseren Geschmack zu wenig Raum
gelassen für eigene Gedanken, Umwege, Humor. Aber sollte man in
Deutschland nicht zur Kenntnis nehmen, welche kognitiven Leistungen
Kinder schon in frühen Jahren erbringen können? Haben wir nicht in den
vergangenen Jahren gemerkt, dass wir den Kindern zu wenig zugetraut
haben?
Die chinesischen Eltern und Pädagogen sind aufbruchsbereit. Auf die
Frage nach dem Naturforschen mit Kindern hatte mir ein Pekinger
Kindergarten noch vor zwei Jahren gezeigt, wie die Kinder in
Zweierreihen vor eine Blumenrabatte geführt wurden: zur Naturbetrachtung
der roten und gelben Tulpen, die sie nicht berühren durften. Zwei Jahre
später beobachteten Erzieher mit Kindern die Ameisen, wie sie Wege
zwischen Glasscheiben bahnten, die die Kinder mit Sand bestreut hatten.
Die Erzieher waren jetzt fasziniert von der experimentellen Energie
ihrer Kinder, und ihre Fragen zielten in die Mitte unserer europäischen
Bildungsdiskurse. China sucht nicht nur in Hongkong und in Singapur nach
Anregungen, man will gern auch vom alten Europa lernen. Wenn wir etwas
zu sagen haben.
Die Autorin ist Kulturwissenschaftlerin und arbeitet am Deutschen
Jugendinstitut in München. Ihr neuestes Buch »Weltwunder – Kinder als
Naturforscher« ist bei Kunstmann erschienen.