Frau Chua, Ihre Töchter Sophia und Louisa durften nie bei Freunden
übernachten, nie Freunde mit nach Hause bringen und sich nie ihre Hobbys
selbst aussuchen. Werden Sie von Ihren Kindern gehasst?
Chua: Ich hoffe nicht! Mir war es wichtig, dass Sophia und Lulu
fließend Mandarin und Englisch lernen und dass sie nur Einsen nach Hause
bringen. Sophia konnte mit 18 Monaten das Alphabet. Während andere
Kinder lernten, von eins bis zehn zu zählen, habe ich ihr die
Grundrechenarten und Dezimalzahlen beigebracht. Als sie drei war, las
sie Sartre. Natürlich wollte ich, dass meine Kinder Hobbys haben - aber
nicht so etwas wie Handarbeit, die zu nichts führt, sondern etwas
Sinnvolles und Schwieriges, mit Potential für Tiefe und Virtuosität.
SPIEGEL: Sie verlangten, dass Sophia Klavier lernt und "Lulu"
Geige. Klassische Musik sei "das Gegenteil von Niedergang, Trägheit und
Verwöhntheit", schreiben Sie in Ihrem soeben erschienenen
Erziehungstagebuch. Ist das Ihre Kritik an der Kuschelpädagogik
westlicher Eltern?
Chua: Ich habe nicht die Absicht, andere Leute zu belehren.
Allerdings glaube ich durchaus, dass westliche Eltern die Dinge manchmal
zu leicht nehmen. Sie können einem Sechsjährigen nicht sagen:"Geh heute
mal deinen Leidenschaften nach; ich möchte nur, dass du glücklich
bist." Das ist zu romantisch. Natürlich hofft jede Mutter, dass das Kind
dann die Flöte in die Hand nimmt oder Gedichte schreibt. Aber ich
glaube, es wird sich einfach vor den Fernseher setzen oder
Computerspiele spielen.
SPIEGEL: "Oh mein Gott, du wirst schlechter und schlechter",
haben Sie Sophia einmal beim Klavierüben gesagt, "wenn das beim nächsten
Mal nicht perfekt ist, nehme ich dir sämtliche Stofftiere weg und
verbrenne sie." Für solche Methoden, Kinder auf Linie zu bringen, werden
Sie derzeit in den USA angefeindet.
Chua: Rückblickend mag das Coaching etwas extrem gewesen sein.
Andererseits war es effektiv. Mit neun gewann Sophia ihren ersten
Klavierwettbewerb.
SPIEGEL: Später spielte sie sogar einmal in der Carnegie Hall in New York ...
Chua: Und sie liebte es! Nichts macht Spaß, wenn man nicht gut
darin ist. Und dafür muss man hart arbeiten. Doch Kinder wollen von sich
selbst aus niemals arbeiten. Darum ist es entscheidend, sich über ihre
Vorlieben hinwegzusetzen. Das erfordert Strenge, denn das Kind wird sich
widersetzen.
SPIEGEL: Erläutern Sie doch einmal die Rezepte chinesischer Elternschaft.
Chua: Liebe und Zuhören, immer jedoch gepaart mit hohen
Erwartungen. Chinesische Eltern drillen ihre Kinder jeden Tag. Wenn das
Kind keine perfekten Noten nach Hause bringt, hat es einfach nicht hart
genug gearbeitet. Westliche Eltern werden ihr Kind für eine Eins minus
loben. Die chinesische Mutter jedoch wird nach Luft schnappen und
fragen, was falschgelaufen ist.
SPIEGEL: Warum kann sie sich nicht einfach über eine gute Note freuen?
Chua: Weil es beim chinesischen Erziehungsstil darum geht, das
Beste aus seinem Kind herauszuholen. Es geht darum, an sein Kind zu
glauben, und zwar mehr als jeder andere. Hartnäckiges Üben ist
ausschlaggebend für Spitzenleistungen. Der Effekt sturer Wiederholung
wird in der westlichen Welt weit unterschätzt. Westliche Eltern geben zu
früh auf.
SPIEGEL: In einer Szene Ihres Buchs weigert sich Lulu, ein
Klavierstück zu üben. Sie drohen Lulu daraufhin, ihr Puppenhaus der
Heilsarmee zu spenden und ihre Geburtstagsparty für mehrere Jahre
ausfallen zu lassen. Schließlich üben Sie mit ihr bis spät in die Nacht
und lassen sie dabei nicht einmal auf die Toilette gehen. Das klingt
fast nach Folter.
Chua: Ja, ich weiß. Es ist lustig, wie die Leute das überhöhen.
Sie sagen: "Oh mein Gott, das ist wie Guantanamo Bay!" In Wahrheit ist
diese Episode ein gutes Beispiel dafür, dass Zwang funktioniert. Denn
nach all dem Kämpfen fing Lulu plötzlich an, das Stück fehlerfrei zu
spielen. Dann strahlte sie und sagte: "Mama, guck, es ist ganz einfach."
SPIEGEL: Sie kommen aus einer traditionellen chinesischen
Einwandererfamilie und wurden offenbar ähnlich erzogen. Einmal hat Ihr
Vater sie sogar als "Müll" beschimpft.
Chua: Mein Vater hat mich ein einziges Mal so genannt. Und ich
weiß genau, warum. Meine Mutter hatte etwas zu mir gesagt, und ich
antwortete "Halt dein Maul. Ich hasse dich!" Da griff mein Vater ein.
Was er wirklich meinte, war: "Schande über dich, dass du so mit deiner
Mutter sprichst." Und er hatte recht. Mit meiner Tochter Sophia habe ich
Ähnliches erlebt. Ich nannte sie nur ein einziges Mal "Müll" - weil sie
mich beleidigt hatte.
SPIEGEL: Sie sagen, das Buch sei eigentlich eine
Liebesgeschichte. Wie können Sie von Liebe sprechen, wenn Sie Ihre
Kinder den ganzen Tag maßregeln und drillen?
Chua: Ich bin mir sicher, dass meine Kinder zu jeder Zeit
wussten, dass ich sie liebe. Die Botschaft an die Kinder darf natürlich
nicht lauten: "Wenn du keine Eins nach Hause bringst, liebe ich dich
nicht mehr." Die Botschaft muss lauten: "Du kannst eine Eins bekommen,
weil du ein starkes, schlaues Kind bist." Wenn ein Kind in der
Mathematik oder beim Klavierspielen richtig gut ist, bekommt es
Anerkennung. Daraus entsteht Befriedigung - und schließlich Glück.
SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, dass Glück nur von schulischen Leistungen abhängt?
Chua: Ich halte nichts davon, dem Kind immer wieder zu sagen "Du
bist perfekt, mach dir keine Sorgen", ohne dass es wirklich etwas
leistet. Irgendwann nämlich müssen Kinder in der richtigen Welt
klarkommen. Und wenn sie dann nichts können, werden sie wohl kaum den
Job bekommen, den sie haben wollen. Ein gesundes Selbstwertgefühl ist
der Schlüssel zum Glück. Und das erreicht man nur durch
Herausforderungen und Leistung.
SPIEGEL: Zu hohe Erwartungen können aber auch große psychische
Schäden anrichten. Die Selbstmordrate bei asiatisch-amerikanischen
jungen Frauen ist überdurchschnittlich hoch.
Chua: Wenn das stimmt, ist das natürlich tragisch. Aber mir
erscheint das doch sehr anekdotisch. Ich werde von allen Seiten mit
solchen Statistiken bombardiert, und ich würde wirklich gern handfeste
Daten sehen. Ich glaube nicht, dass westliche Kinder glücklicher sind
als asiatische. Gut möglich, dass sogar das Gegenteil der Fall ist.
Allerdings ist es natürlich furchtbar, Kinder so unter Druck zu setzen,
dass sie die Last nicht mehr tragen können.
SPIEGEL: Haben Sie selbst auf Ihre Kinder zu viel Druck ausgeübt? Ihre Tochter probte den Aufstand, als sie 13 war ...
Chua: ... ja, dieses Temperament und diese Scharfzüngigkeit hat sie von mir geerbt (lacht).
SPIEGEL: Sie saßen in einem Restaurant in Moskau und wurden wütend, weil Lulu den Kaviar nicht probieren wollte.
Chua: Sie schrie: "Ich hasse dich; du bist eine schreckliche
Mutter; ich hasse mein Leben; ich hasse die Geige." Und es fühlte sich
plötzlich so an, als würde alles auseinanderfallen. Ich fragte mich:
"Habe ich alles falsch gemacht? Werde ich meine Tochter verlieren?" Ich
stand auf und rannte davon. Ich heulte Rotz und Wasser. Schließlich
kehrte ich zurück und sagte: "Lulu, du hast gewonnen; es ist vorbei; wir
geben die Geige auf."
SPIEGEL: Lulu begann dann mit Tennis.
Chua: Ja. Das war schmerzhaft. Wer erst mit 13 anfängt, wird
keine großartige Tennisspielerin mehr. Aber ich wusste, dass es das
Richtige für sie war. Toll finde ich, dass ihr Trainer von ihrer
Arbeitsethik schwärmt. "Sie gibt nie auf", sagt er. Sie kämpft. Sie
drillt sich selbst.
SPIEGEL: Viele westliche Bildungsforscher gehen davon aus, dass
Drill die Kreativität tötet. Als wichtiger gilt es, spielerisch die
Phantasie der Kinder zu fördern.
Chua: Auch ich lege viel Wert auf Kreativität. Doch statt meine
Kinder mit Holz spielen zu lassen, setze ich sie lieber den
unterschiedlichsten Kulturen und Ideen aus. Wir reisen viel. Wir gehen
in Museen.
SPIEGEL: In den USA hat Ihr Buch wütende Proteste ausgelöst. Sie werden als Monstermutter beschimpft.
Chua: Ja. Ich wusste natürlich, dass mein Buch provozieren würde.
Aber was jetzt passiert, ist surreal. Die Leute realisieren nicht, dass
das Buch die Reise einer Mutter beschreibt. Am Ende stelle ich komplett
in Frage, wie ich meine Kinder anfangs erzogen habe. Ich vermute, dass
die Sache auch eine geopolitische Dimension hat. Shanghai hat ja gerade
überragend in der Pisa-Studie abgeschnitten. Die Dominanz der Chinesen
macht vielen Menschen im Westen Angst.
SPIEGEL: Sie sagen, Sie seien mittlerweile viel westlicher geworden. Dürfen Ihre Töchter inzwischen bei Freunden übernachten?
Chua: Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Zufällig ist genau heute
Lulus 15. Geburtstag. Und wissen Sie was? Am Samstag haben sieben ihrer
Freundinnen bei uns übernachtet.
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